Zwei Literaturspaziergänge: Hilbigs Heimat beeindruckt international
Ein weit gereister Gast besuchte am 29. September 2023 die Stadtbibliothek Meuselwitz: Anna Kove, renommierte Übersetzerin aus Albaniens Hauptstadt Tirana, die Autoren wie Paul Celan, Günter Grass und den aus Meuselwitz stammenden Wolfgang Hilbig in ihre Muttersprache überträgt. Im Herbst 2022 war Koves Band mit den schönsten Gedichten Hilbigs in Albanien erschienen; die Buchpremiere veranstaltete die Deutsche Botschaft in Pristina (Kosovo) vor großem Publikum. Ein knappes Jahr später reist die Albanerin nach Meuselwitz: „Natürlich muss ich die Heimatstadt dieses weltberühmten Dichters sehen, die ich aus der Literatur ja schon kannte“, sagte sie der Bibliothekarin Sabine Grundmann, der sie ein Exemplar der albanischen Hilbig-Ausgabe „Gjethet dhe hijet“ („Blätter und Schatten“) übergab. Gemeinsam fügten die beiden Literatur-Frauen, die sich gleich sympathisch waren, das seltene Buch der „Hilbig-Ecke“ in der Meuselwitzer Bibliothek hinzu. Die von Grundmann über die Jahre zusammengetragene Sammlung begeisterte die Albanerin, die hier – neben den vier bisher erschienenen Hilbig-Biografien – einiges an Material entdeckte, das ihr noch unbekannt war. Nach ihrem Besuch in der Stadtbibliothek ließ sich die Literatin von Vertretern der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft auf den Spuren des Dichters durch Meuselwitz führen. Diese umfangreiche Tour hatte eine Woche zuvor schon das Leipziger Literaturhaus gebucht: Literaturhausleiter Dr. Thorsten Ahrend war bereits am 23. September mit seinen Gästen auf Exkursion in Meuselwitz gegangen – erfreut, dass auch Einheimische sich anschlossen. Vom Wolfgang-Hilbig-Gedenkstein in der Rudolf-Breitscheid-Straße pilgerte die Gruppe zu zahlreichen Stationen, die man im poetischen Werk Hilbigs wiederfindet – und ließ auch das Denkmal des Meuselwitzer Bergbaupioniers Christian Kluge an der Weinbergstraße nicht aus, der die Stadt, so Hilbig, „in einer revolutionär zu nennenden Weise“ voranbrachte. In „Die farbigen Gräber. Das Meuselwitzer Revier“ erzählt Hilbig vom Aufschwung, den die 82 Kohlegruben brachten, sodass „um die Wende zum 20. Jahrhundert der Meuselwitzer Bahnhof größer war als alle 36 Bahnhöfe des Herzogtums Sachsen-Altenburg.“ Aber auch vom Bruch, der 1990 kam: „Das Obdach der Arbeit, das dem größten Teil der Bevölkerung Ostthüringens Leben und Auskommen garantiert hatte, fiel langsam in sich zusammen.“ Die Stadtrundgänger lauschten dieser Schilderung andächtig – und berührt von der heimatlichen Zuneigung des Dichters zur Meuselwitzer Landschaft: „Es war eine Traumlandschaft im Kleinformat: Wasser, Wüste und Wald, ganz so, wie wir es in den Büchern gelesen hatten, die in den fernsten Ländern handelten […]. Und wenn wir in den Tagebauen schwammen, wenn wir in die farbigen Gewässer hinabtauchten, ohne je den Grund zu erreichen, dann spülten wir die Erinnerung an die fremdartige Gegenwart von uns ab.“ Um die Schauplätze solcher Texte mit eigenen Augen zu sehen, war auch die renommierte Übersetzerin Anna Kove an einem der letzten spätsommerlichen Tage von Tirana nach Meuselwitz gekommen. Nach dem Abendessen mit Meuselwitzer Mitgliedern der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft fuhr sie beeindruckt „von diesem schönen Städtchen“ nach Hause.
Katrin Hanisch
Anna Kove (rechts) mit Sabine Grundmann in der Stadtbibliothek.
Foto: Volker Hanisch
Die Literaturspaziergänger am Areal von Hilbigs Geburtshaus.
Foto: Nico van Veen